Festvortrag, 26.1.2002
IRREN IST NATÜRLICH;
IST ES AUCH MENSCHLICH?


H.G. Dosch
Institut für Theoretische Physik der Universität
Philosophenweg 16
69120 Heidelberg
h.g.dosch@thphys.uni-heidelberg.de
www.thphys.uni-heidelberg.de/~dosch



Rector magnifice, hochansehliche Versammlung, vor allem aber:
Liebe Preisträgerin und liebe Preisträger.

Es ist schon ein Privileg, an einer grossen, traditionsreichen Universität zu studieren, zu forschen und auch zu lehren, an der das ganze Spektrum der alten 4 Fakultäten vertreten ist. Es ermöglicht nicht nur einen sehr direkten und persönlichen Zugang zu verschiedenen Wissenschaften, sondern besonders auch zu Menschen die auf den verschiedensten Gebieten forschen. Mein Vortrag handelt von einem, wie mir scheint, recht typischen Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern. Ich möchte hier keineswegs eine tiefschürfende Analyse ,,Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaften'' vortragen. Darüber hat vor 140 Jahren Helmholtz hier an diesem Ort so grundlegendes gesagt, dass es schwierig wäre hier noch etwas wesentliches hinzuzufügen. Auch möchte ich nicht in das Lamento über die Trennung in 2 Kulturen einstimmen, so berechtigt das auch sein mag. Nein ich will hier nur einen kleinen Aspekt eher anektdotisch aufgreifen, nämlich das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaftlern zu ihren - eigenen- Irrtümern. Ich möchte dabei nicht verhehlen, dass mir die englische Bezeichnung ,,natural sciences'' und ,,humanities'' angemessener scheint als ,,Natur-'' und ,,Geistes''-Wissenschaften und dies erklärt den Titel meines Vortrags: Irren ist natürlich; ist es auch menschlich?

Im Jahre 1796 veröffentlichte Immanuel Kant in der Berlinischen Monatsschrift einen Aufsatz mit dem Titel: ,,Über einen neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie''. Hier setzt er sich kritisch - und witzig- mit einer neu aufkommenden mystischen Richtung in der Philosophie auseinander, die die philosophische Probleme eher mit Gefühl und Ahnung als durch kritische Analyse behandeln wollte. Ein wichtiger Vertreter dieser Richtung, der in diesem Aufsatz auch besonders angegriffen wird, ist Johann Georg Schlosser, der Freund und Schwager Goethes. Kant wendet sich zu Beginn seines Aufsatzes gegen den Versuch einer schwärmerisch philosophischen Lösung mathematischer Probleme. Er schreibt:

Der welcher eine mathematische Aufgabe philosophisch auflösen will, widerspricht sich hiemit selbst; z. B. was macht, dass das rationale Verhältnis der drei Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks nur das der Zahlen 3, 4, 5 sein kann?
Die mathematische Aussage, die Kant aufwirft betrifft den Satz des Pythagoras, und das alte Problem, ganze Zahlen zu finden, deren Summe der Quadrate wieder eine Quadratzahl ergibt. Die ganzen Zahlen 3, 4, 5 erfüllen in der Tat diese Bedingung, denn 9 + 16 = 25. Aber, die Aussage, die in der Frage unterstellt wird, dass dies die einzigen ganzen Zahlen seien, ist schlicht und einfach falsch.

Dies Beispiel ist ohne jeglichen Einfluss auf den Inhalt des Aufsatzes, und dennoch war der Irrtum Kants, um den es sich hier zweifelsohne handelte, schon ein bisschen peinlich, und zwar aus 3 Gründen:

  1. In einer Polemik sollte man besonders vorsichtig sein und keinen auch noch so unbedeutenden Fehler machen.

  2. Es handelte sich hier um eines der ältesten Probleme der Zahlentheorie, das schon im Altertum gelöst wurde.

  3. Der Irrtum wurde natürlich bemerkt und schon im nächsten Band der Berlinischen Monatsschrift erschien ein entsprechender Hinweis.

Das Problem der pythagoreischen Zahlentripel wurde von dem grössten Arithmetiker des Altertums, Diophantos von Alexandria im 2. Buch seiner Arithmetik erschöpfend behandelt. Insbesondere gibt er einen strengen, sogar konstruktiven, Beweis dafür, dass es unendlich viele solcher Zahlen gibt. in der Sprache Kants: Es gibt unendlich viele verschiedene (d.h. nicht-ähnliche) Dreiecke, deren Zahlenverhältnis rational ist.

Dieser Satz gab nun Anlass zu einem Problem der Zahlentheorie, das die besten Mathematiker bis in die Jetzt-Zeit beschäftigte. Einer der grössten Mathematiker, der hohe Verwaltungsbeamte Pierre Fermat, schrieb um 1635 an den Rand der entsprechenden Stelle des Diophant, dass das Problem nur für Quadratzahlen, nicht aber für Kuben oder höhere Potenzen lösbar sei. Er schrieb auch, er habe dafür einen wunderbaren Beweis, den aber der Rand nicht fasse. Nur für die 4. Potenz gab Fermat in anderem Zusammenhang einen Beweis an. So blieb dieses ,,Letzte Theorem Fermat's'' über dreieinhalb Jahrhunderte lang eine Vermutung. Den erste wesentlichen Fortschritt seit Fermat erzielte Leonhard Euler, der 1753 den Beweis für Kubikzahlen führte. Nach vielen kleinen Schritten lieferte der englische Mathematiker Andrew Wiles schliesslich den endgültigen Beweis von Fermat's letztem Theorem. Er wurde am 25. Oktober 1994 von der Zeitschrift ,,Inventiones Mathematicae'' endgültig akzeptiert, nachdem eine Lücke, die der Referee bemerkt hatte, behoben war. Eine sehr schöne Dokumentation findet sich in dem populärwissenschaftlichen Buch von Simon Singh ,,Fermat's Last Theorem''. Sie sehen also, ein ganz kleiner Fehler, aber ein grosses Problem.

Auch der Autor, der auf den Irrtum hinwies, Johann Albert Heinrich Reimarus war keineswegs unbedeutend. Er war hoch angesehener Arzt in Hamburg, der dort z.B. die Pockenimpfung einführte. Durch sein Buch über Blitzableiter wurden diese in Europa verbreitet und Lichtenberg schreibt ihm, dass er sein Gartenhaus nach seinen, Reimarus Ideen, gegen Blitz geschützt habe. Durch sein Eintreten für Blitzableiter geriet Johann Albert ebenso wie sein Vater, der Theologe Herrman Samuel Reimarus, in Konflikt mit der lutherischen Orthodoxie. Waren aber die vom Sohn propagierten Ketzerstangen, die in den Ratschluss Gottes eingriffen, eher ein Problem der praktischen Theologie, waren beim geisteswissenschaftlichen Vater Fragen der Dogmatik der Stein des Anstosses. Die Bedeutung von Reimarus als Naturgelehrter ergibt sich auch daraus, dass eine Gräsergattung, die reimarochloa, nach ihm benannt ist.

Also: ein winziger Fehler, aber ein wichtiges Gebiet und ein bedeutender Kontrahent. Kant musste reagieren. Ich weiss nicht, wie die Gepflogenheiten bei den Geisteswissenschaften sind, aber in den Naturwissenschaften gibt es das Erratum. Ich treibe nun das Spiel und formuliere ein etwas gespreiztes Erratum für Kant. Dies ist besonders einfach, da dieser kleine Irrtum auf den Inhalt des Aussatzes keinen Einfluss hat, worauf auch Reimarus ausdrücklich hinwies.

Erratum zu ,,Über einen neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie''. In dieser Abhandlung hatte ich einem pythagoreischen Zahlenmystiker die Frage in den Mund gelegt: was macht, dass das rationale Verhältnis der drei Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks nur das der Zahlen 3, 4, 5 sein kann?. Dabei hatte ich nur an die einander unmittelbar folgenden Zahlen in der unendlichen Reihe aller in der natürlichen Ordnung fortschreitenden Zahlen gedacht. Nur dann ist der Satz wahr und sehr leicht zu beweisen.

Ich bedaure, dass Herr Dr. Reimarus durch meine Auslassung unnötigerweise bemühet worden und danke ihm für den Hinweis. Der Leser kann sich überzeugen, dass die kleine Auslassung keinen Einfluss auf den weiteren Inhalt meines Aufsatzes hat, wie auch schon Herr Dr. Reimarus freundlich anmerkte.

Kant aber schreibt kein Erratum, sondern einen neuen kleinen Aufsatz in der Berlinischen Monatsschrift: ,,Ausgleichung eines auf Missverstandes beruhenden Mathematischen Streits''. Dort schreibt er: ,,Nichts scheint also klarer, als dass wir uns in einem wirklich mathematischen Streit begriffen finden. Es ist aber blosser Missverstand in dieser Entzweiung''. Und so schiebt Kant nach:

K. sagt (wenigstens denkt er sich den Gegensatz so): In der unendlichen Reihe aller in der natürlichen Ordnung fortschreitenden Zahlen gibt es unter den einander unmittelbar folgenden (also verbunden gedacht) kein rationales Verhältnis jener Seiten als nur das der Zahlen 3, 4, 5.
Nun ist der Sachverhalt vollkommen korrekt beschrieben und perfekt für ein Erratum. Aber nun beginnt der Trick Kants, er wirft - zumindest implizit- auch Reimarus Unvollständigkeit vor:
R. sagt (wenigstens denkt er sich seinen Satz so): in der unendlichen Menge aller möglichen Zahlen (zerstreut gedacht) gibt es, was die Seiten des rechtwinkligen Dreiecks betrifft, mehr rationale Verhältnisse, als das der Zahlen 3, 4, 5 .
Durch diesen Salto mortale hat es Kant fertig gebracht, beide, den Kritiker und den Kritisierten auf eine Stufe zu stellen, indem er zwei zweifelsohne richtige Sätze gegenüberstellt: den seinen, wesentlich eingeschränkt, und den von Reimarus, nur rhetorisch modifiziert. Und damit wird das ganze nur ein Missverständnis.

Mein Beispiel aus den Naturwissenschaften könnte ich sehr kurz fassen. Schon als Diplomand machte ich hier eine existentielle Erfahrung. Als ich den mich betreuenden Assistenten bei einer Diskussion darauf aufmerksam machte, dass vor kurzem meine Aufgabenstellung noch ganz anders gelautet habe, wies er mir keineswegs nach, dass ich ihn da missverstanden habe, sondern er sagte nur kurz und bündig:

Da kann ich nur mit Einstein sagen: ,, Was geht mich mein saudummes Geschwätz von gestern an''.
(Karlheinz Lindenberger beherrschte als gebürtiger Pforzheimer das Idiom Einsteins).

Es ist mir schon klar, dass ich hier besser dokumentieren muss. Glücklicherweise ist das möglich, denn Werner Heisenberg berichtet über ein Gespräch, dass er mit Albert Einstein im Frühjahr 1926 führte. Nach einem Kolloquium in dem Heisenberg seine neue Grundlage der Quantentheorie vorgestellt hatte, wurde er von Einstein in dessen Wohnung eingeladen. Dort angekommen eröffnete Einstein das Gespräch mit Fragen, die auf die philosophischen Voraussetzungen der Überlegungen Heisenbergs zielten. Heisenberg erklärte, dass es ihm vernünftig schien, nur Grössen in die Theorie aufzunehmen, die beobachtet werden können. Darauf Einstein

Aber Sie glauben doch nicht im Ernst, dass man in eine physikalische Theorie nur beobachtbare Grössen aufnehmen kann ?
Heisenberg
Ich dachte, dass gerade Sie diesen Gedanken zur Grundlage Ihrer Relativitätstheorie gemacht hätten?
Einstein
Vielleicht habe ich diese Art von Philosophie benutzt, aber sie ist dennoch Unsinn.
So weit, und natürlich noch weiter bei Heisenberg in seinen Erinnerungen ,,Der Teil und das Ganze''.

Diese beiden kleinen Beispiele habe ich ausgewählt, weil sie mir recht typisch erscheinen für einen charakteristischen Unterschied zwischen Natur und Geisteswissenschaftlern, nämlich ihr Verhalten zum eigenen Irrtum. Auf der einen Seite das oft obstinate Verhalten bei der eigenen Meinung oder Aussage, auf der anderen die recht non-chalante Aufgabe der eigenen Meinung von gestern. Dies lässt nun böswillige und vordergründige Interpretationen zu, die allerdings auch nicht ganz unbegründet sind. Der Naturgelehrte mag dem Geisteswissenschaftler vorwerfen: bei Euch ist wahr und falsch garnicht so streng verschieden. Durch eine entsprechende Interpretation lässt sich jede Aussage so hindrehen, dass sie doch noch richtig ist. Das nennt Ihr dann auch noch Methode. Dass solche Meinungen wirklich vorkommen zeigt eine Stelle bei Steven Weinberg, einem der bedeutendsten lebenden Physiker: Er zitiert verständnisvoll einen befreundeten Kollegen, der im Angesicht des Todes wohl Trost daraus schöpfe, dass er nun nie mehr das Wort ,,Hermeneutik'' nachschlagen müsse.

Umgekehrt wird den Naturwissenschaftlern vorgeworfen, dass sie mit unsauberen Begriffen arbeiteten und sich garnicht darauf festlegten, was wahr und falsch sei und dass sie Ihre Begriffe wie ein Mäntelchen nach dem Wind drehten um immer in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehre und den jeweiligen Experimenten zu sein. So zu lesen bei gewissen konstruktivistischen Philosophen und Soziologen.

Lassen Sie mich versuchen, diese Interpretationen auf ein höheres Niveau zu heben, wo sie nicht in selbstgerechte Anklagen münden, sondern vielleicht zu einem besseren Verständnis führen können.

In seinen ,,Neuen Essays zum menschlichen Verständnis'' schreibt Leibniz, der nun wirklich beiden Lagern zugerechnet werden muss:

Man muss gestehen, dass die Zustimmung nicht immer auf einer tatsächlichen Einsicht in die Vernunftgründe aufgebaut ist. ...Es genügt, dass sie einmal die Materie aufrichtig und mit Sorgfalt durchgegangen sind und sozusagen die Rechnung abgeschlossen haben.
Aha, könnten nun die Geisteswissenschaftler sagen (und manche tuen dies): Da haben wir es. Wer sich die Sachen nicht gründlich überlegt und begrifflich sauber durchdacht hat, muss seine Meinung halt oft ändern.

Aber Leibniz fährt fort:

Man muss zugeben, dass dies die Menschen oft auf dem Irrtum bestehen lässt. Lobenswert ist jedoch die Anhänglichkeit an das was man gesehen hat, aber nicht immer das, an was man geglaubt hat, weil man irgendeine Überlegung ausgelassen haben kann, die fähig ist alles umzukehren.

Und hier sehe ich nun einen grossen Unterschied zwischen Natur und Geisteswissenschaften, zumindest den spekulativeren. Bei den Naturwissenschaften ist das aufrichtige und sorgfältige Durchforsten der Materie, das Leibniz anspricht, ein kollektiver Vorgang, an dem sich viele Personen aus vielen Generationen beteiligen und der durch zwei Prinzipien gelenkt wird: Die mathematische und die empirische Methode. Es ist diese enge Verzahnung zweier so verschiedener Methoden - die Einstein in seinem Gesprächmit Heisenberg erwähnte - die den Erfolg der Naturwissenschaften ausmacht und es erlaubt, gewisse Konten, wenigstens für längere Zeit, tatsächlich abzuschliessen.

Ist die sorgfältig prüfende Vernunft in den Naturwissenschaften kollektiv, und zwar über Raum und Zeit, so ist sie in den Geisteswissenschaften individuell. Jeder muss letztlich selbst entscheiden, ob nicht eine Überlegung hintangestellt wurde, die alles umkehren kann. Daher ist ein Irrtum auch weit folgenreicher und es mag nicht wundern, wenn auch bei kleinen und und unbedeutenden Fehlern versucht wird, die Aussage durch geeignete Interpretation doch noch zu retten. Es könnte in den Geisteswissenschaften ja gelten: Wer einmal irrt, dem glaubt man nie mehr, während in den Naturwissenschaften eher gilt: Leugnen ist sowieso zwecklos.

Ich selbst bin, wie sie wahrscheinlich längst gemerkt haben, Naturwissenschaftler, theoretischer Physiker, und möchte die Gelegenheit wahrnehmen vor einigen Missverständnissen zu warnen. Natürlich sind die Naturwissenschaften nicht so homogen, wie es von aussen manchmal erscheinen mag. Der physikalische Gegenstand fällt nicht zusammen mit dem chemischen und der chemische nicht mit dem biologischen. Auch innerhalb der Naturwissenschaften gibt es viele verschiedene ,,symbolische Denkweisen'' um mit Ernst Cassirer zu reden - übrigens einer der ganz wenigen Geisteswissenschaftler, die die Naturwissenschaften verstand haben. Dennoch glaube ich, dass das, was ich allgemein gesagt habe und für das die Physik mir das Vorbild gab, auch für die Gesamtheit der Naturwissenschaften gilt. Dies nicht nur wegen der gemeinsamen Wurzeln, sondern auch deswegen, weil die aus der Physik entnommenen Messmethoden heute in den anderen Wissenschaften weiter verbreitet sind, denn je. Auch ein Mediziner, der ein Kernspin-Tomogramm auswertet muss sich auf die Richtigkeit etwa der Theorie der Lie'schen Gruppen verlassen und hängt damit stärker von der Mathematik ab, als er vielleicht denkt. Im allgemeinen macht die Übertragung der Methoden aus einer Naturwissenschaft in die andere keine Schwierigkeiten, eben weil sie zwar auf grundverschiedene Gegenstände aber in ein ähnlich strukturiertes Gebiet übertragen wird.

Dies gilt nicht, für die Geisteswissenschaften. Hier kann die Übertragung so genannter ,,naturwissenschaftlicher'' Methoden verheerende Folgen haben. Sie kann einmal zu purer Erbsenzählerei verleiten, und hier sehe ich im FIND Befehl des Textverarbeitungsprogramms eine echte Gefahr. Die Resultate mögen dann zwar richtig sein, aber gleichzeitig erfüllen sie das von dem grossen Physiker Wolfgang Pauli eingeführte tiefste negative Prädikat: ,,Nicht einmal falsch''. Eine andere Gefahr besteht in der Übernahme unverstandener Begriffe aus der Mathematik und eine Bildung unscharfer Analogien. ,,Chaos Theorie und Fraktale Geometrie'' sind beliebte Übernahmekandidaten. Eine Blütenlese solcher Fälle finden sich in dem amüsanten und aufschlussreichen Buch von Sokal und Bricmont ,,Fashionable Nonsense''.

Vor einem weiteren Missverständnis möchte ich ebenfalls warnen. Es gibt kaum einen grösseren Unsinn als die Rede vom schnell veraltenden Wissen im Bereich der Naturwissenschaften. Die von mir oben erwähnte kollektive Vernunft lässt das gesicherte Wissen nicht nur stetig anwachsen, es arbeitet auch das bestehende laufend neu durch. Hierdurch kommt es dazu, dass aus scheinbar kristallin abgeschlossenen Gebieten neue und hochaktuelle Forschungsgebiete entstehen. Ein Beispiel dafür sind die Stabilitätsfragen in der klassischen Mechanik, besser bekannt als (klassische) Chaostheorie. Ein anderes, wie aus dem scheinbar esoterischen Gebiet der zu Anfang angesprochenen Zahlentheorie hochaktuelle Methoden der Kodierung, z.B. von pin-Zahlen auf Scheckkarten entwickelt werden. Wenn Universitätreformer die Studienpläne durchforsten, um das Gesicherte weitgehend zu eliminieren und sich auf das Neue, möglichst noch Anwendungsorientierte, zu konzentrieren, heisst dies einen sichern Weg in die Sterilität vorschreiben. Ich kann sagen, dass nichts von der Substanz dessen, was ich in meinem Studium gelernt habe, veraltet ist. Das gilt sogar, wenn auch mit Einschränkungen, von den Methoden. Ich lernte Programmieren an der Siemens 2000. 2000 stand für 2 kbyte RAM, dafür füllte sie aber auch 2 grosse Räume aus. Wenn ich auch bei delikateren Fragen auf fremde jüngere Hilfe angewiesen bin, so nützt mir das, was ich als Doktorand dabei gelernt habe, noch immer, mein Betriebssystem zumindest ein bisschen zu verstehen. Ich bin sicher, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, dass auch Sie in etwa 40 Jahren ähnlich urteilen werden.


Literatur

1
Hermann Helmholtz.
Über das Verhältnis der Naturwissesnschaften zur Gesamtheit der Wissenschaften, Akademische Festrede.
Heidelberg, 1862.

2
Immanuel Kant.
Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie.
Berlinische Monatsschrift, XXVII:387-426, 1796.
Akademie-Ausgabe, Bd. VIII, 387.

3
Diophantos von Alexandria.
Arithmeticorum Libri Sex.
Drouart, Paris, 1621.
Lat. Ausgabe von Bachet, diese Ausgabe benutzte Pierre Fermat, Diophant lebte um 250 n Chr.

4
Simon Singh.
Fermat's Last Theorem.
London, 1997.
Dt. Übersetzung bei Hanser.

5
Johann Albert Heinrich Reimarus.
Über das rationale Verhältnis der drei Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks.
Berlinische Monatsschrift, XXVIII:145-149, 1796.
zugänglich unter: www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/Berlinische_Monatsschrift/.

6
Georg Christoph Lichtenberg.
Schriften und Briefe.
Hanser, München, 1992.
Brief vom 18.August 1794 an J.A.H. Reimarus.

7
Immanuel Kant.
Ausgleichung eines auf Mißverstandes beruhenden mathematischen Streits.
Berlinische Monatsschrift, XXVIII:368-370, 1796.
Akademie-Ausgabe Bd. VIII, 407.

8
Werner Heisenberg.
Der Teil und das Ganze.
Piper, München, 1969.
Kap. 5.

9
Steven Weinberg.
Sokal's Hoax.
New York Review of Books, Aug. 8, 1996.

10
Gottfried Wilhelm Leibniz.
Nouveaux Essais sur l'Entendement Humain.
Berlin, 1882.
Gerhardt'sche Ausgabe. Buch IV, Kap. 16.

11
Ernst Cassirer.
Die Philosophie der Symbolischen Formen.
Paul Cassirer, Berlin, 1923,1925,1929.

12
Alan Sokal and Jean Bricmont.
Fashionable Nonsense.
Picador, New York, 1998.
2002-01-26