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UND SEH' EIN TRAURIG DUNKLES BLAU -
GOETHE UND DIE EXAKTE NATURWISSENSCHAFT


Vortrag, gehalten bei der Tagung
CASSIRER UND GOETHE
am 13. November 1999


Hans Guenter Dosch
Institut für Theoretische Physik der Universität Heidelberg
Philosphenweg 16, D69120 Heidelberg
e-mail h.g.dosch@thphys.uni-heidelberg.de


Sehr verehrte Damen, meine Herren,


zunächst moechte ich den Veranstalterinnen dieser Tagung ganz herzlich für die Einladung danken, die mir sozusagen als Exoten die Möglichkeit gibt, an so bedeutender Stelle über die Beziehung der Goethe'schen Naturforschung zur modernen exakten Naturwissenschaft zu sprechen.

Cassirer hat diesem Thema zwei gewichtige Aufsätze gewidmet. Einmal in Freiheit und Form1, wo er hauptsächlich die unbestrittene Leistung Goethes in der Biologie vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus untersuchte, zum anderen in Idee und Gestalt 2, wo er das viel komplexere Thema Goethe und die mathematische Physik behandelte. Er stand dabei in einem echten Dilemma: Einerseits verehrte er Goethe nahezu grenzenlos - und eben nicht nur als Dichter - zum andern war er einer der wenigen modernen Philosophen der die Naturwissenschaft, insbesondere die abstrakt mathematische, verstanden hat. Er stellt sich in dem oben erwähnten Aufsatz die Aufgabe, innerhalb einer weiterentwickelten systematischen Philosophie die Frage nach dem systematischen Verhältnis des Goethe'schen Naturbegriffs zum Naturbegriff der exakten Physik zu beantworten. Er sagt aber deutlich, dass er in dem Aufsatz die Antwort keineswegs gegeben habe.

Ich muss bescheiden sein und das Problem sehr einseitig, nämlich aus dem Blickwinkel des exakten Naturwissenschaftlers betrachten. Ich möchte daher in meinem Vortrag weniger auf die Cassirer'schen Ausführungen bezugnehmen, als vielmehr versuchen das entscheidende Dilemma, das ich bei Goethe sehe, herauszuarbeiten, und das sich besonders im Hinblick auf die Philosophie der symbolischen Formen als besonders brisant herausstellt.

Wie Sie wissen, hat sich Goethe zumindest seit seiner italiänischen Reise intensiv mit der Erforschung der Natur beschäftigt, und dabei nimmt die Farbenlehre eine besondere Stellung ein. Ich möchte allerdings die bekannte von Eckermann überlieferte Aussage nicht überbewerten 3:

,,Auf alles, was ich als Poet geleistet habe bilde ich mir garnichts ein... dass ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige gewesen bin, der das Rechte weiss, darauf tue ich mir etwas zugute, und es gibt mir ein Gefühl der Superiorität über viele.''

Hier mag nicht nur ein gewisser Trotz, hervorgerufen durch mangelnde Anerkennung, zum Ausdruck gekommen sein , sondern auch ein forensischer Kunstgriff , denn um seine Reputation als Dichter brauchte Goethe wirklich nicht zu kämpfen. Und es hiese wohl Goethe verkennen, wenn man bei der folgenden Passage aus den Confessionen des Verfassers am Ende der Farbenlehre nicht auch auch an seine Bemühungen um die Farbenlehre denken dürfte 4:

,,So gewiss ist es, dass die falschen Tendenzen den Menschen öfters mit grösserer Leidenschaft erfüllen, als die wahrhaften, und dass er demjenigen weit eifriger nachstrebt, was ihm misslingen muss, als was im gelingen könnte.''

Obwohl die Farbenlehre nach Seitenzahlen das umfangreichste Werk Goethes ist, ist sie doch vielleicht das am wenigsten bekannte und so möchte ich kurz, wenn auch nicht den gesamten Inhalt, so doch den Aufbau darstellen: Sie zerfällt in einen didaktischen Teil, den eigentlichen Kern der Farbenlehre, einen polemischen Teil, der diesen Namen wirklich verdient und in einen historischen Teil, eine Sammlung hauptsächlich biographischen Materials von der Antike bis zur Gegenwart und endet mit den bereits erwähnten Konfessionen des Verfassers. Es folgen noch die nachgelassenen Beiträge zur Optik.

Der didaktische Teil gliedert sich in 6 Abteilungen:
1) Physiologische Farben,
2) Physische Farben,
3) Chemische Farben,
4) Allgemeine Ansichten nach Innen,
5) Nachbarliche Verhältnisse
und schliesslich
6) Sinnlich-sittliche Wirkung der Farben.

Das Ganze Werk ist in 920 Paragraphen und eine Zugabe eingeteilt. Schon diese starke Zergleiderung zeigt, dass in der Farbenlehre in erster Linie an eine Darstellung der Phänomene gedacht ist, und im Vorwort bemerkt Goethe5:

,,eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken, Wirkungen werden wir gewahr und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfasste wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges. Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern, man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten.''

Aber wie er in seinen Ausführungen über Baco von Verulam darlegt, ist ein reines Ansammeln von Fakten steril und er sagt später auch explizit im Vorwort 6 : ,,Denn das blose Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen und so kann man sagen, dass wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren.''

Als Theoretische Physiker stimme ich dieser wunderschönen Klimax natürlich vollherzig zu, die entscheidende Frage wird aber sein: Wo hören wir auf zu theoretisieren? Und hierauf ist Goethe's Antwort sehr deutlich: Beim Urphänomen !

,,Wir nennen sie Urphänomene, weil nichts in der Erscheinung über ihnen liegt, sie aber dagegen völlig geeignet sind, dass man stufenweise, wie wir vorhin hinaufgestiegen, von ihnen herab bis zu dem gemeinsten Fall der täglichen Erfahrung niedersteigen kann. Ein solches Urphänomen ist dasjenige, was wir bisher dargestellt haben. Wir sehen auf der einen Seite das Licht, das Helle, auf der anderen Seite die Finsternis, das Dunkle, wir bringen das Trübe zwischen beide, und aus diesen Gegensätzen, mit Hülfe gedachter Vermittlung, entwickeln sich, gleichfalls in einem Gegensatz, die Farben, deuten aber alsbald, durch einen Wechselbezug, unmittelbar auf ein Gemeinsames wieder zurück  7.''

Damit sind nun Ziel und Grenze des Theoretisierens gefunden, die allgemeine Sprache, die Symbolik als Mitteilung höherer Anschauungen. Und in der Tat ist der grösste Teil der didaktischen Farbenlehre, der über physische Farben, im wesentlichen eine Anwendung des nicht mehr hinterfragten Prinzips der Entstehung der Farben aus der Polarität von Licht und Finsternis durch Einbringen der Trübe.

Mit seinem Prinzip, gedacht als ein physikalisches Grundprinzip, stand nun Goethe in Widerspruch zu gerade dem Teil der Newton'schen Optik, der unumstritten war, nämlich dass weisses Licht eine Mischung verschiedener Farben sei, die durch das Prisma aufgrund ihrer verschiedenen Brechbarkeit entmischt und in die reinen Spektralfarben getrennt werden können. Newton hatte dies durch viele Versuche untermauert deren Schlüssigkeit Goethe im zweiten Teil der Farbenlehre, dem polemischen Teil, zu wiederlegen sucht. Hier setzt sich Goethe beinahe Satz für Satz mit dem ersten Buch der ,,Opticks'' von Newton auseinander.

Um einen Eindruck von der Polemik zu geben, behandle ich ich kurz eine Stelle :

Newton beschreibt und erklärt, dass er durch Mischung verschiedener Pigmente kein reines Weiss, sondern ein Grau erhalte, wie aus der Mischung von Licht und und Dunkelheit. Goethe triumphiert 8:

,,Hier springt ihm endlich auch dieser lang zurückgehaltene Ausdruck durch die Zähne; so muss er immer wie Bileam segnen, wenn er fluchen will, und all seine Hartnäckigkeit hilft ihm nichts gegen den Dämon der Wahrheit...'' Und er wünscht, ,,dass die sämtlichen Newtonianer dergleichen, (d.h. graue) Leibwäsche tragen müssten, damit man sie an diesem Abzeichen von anderen vernünftigen Leuten unterscheiden könnte.''

Beispiele dieser Art liessen sich beliebig vermehren, immer wieder wird die Newtonsche Beobachtungsgabe und seine wissenschaftliche Redlichkeit - oft in starken Worten - in Zweifel gezogen. Helmholtz bemerkt etwas fassungslos 9:

,,Den Lesenden, der aufmerksam und gründlich jeden Schritt in diesem Theile der Farbenlehre sich klarzumachen sucht, überschleicht hier leicht ein unheimliches, ängstliches Gefühl; er hört fortdauernd einen Mann von der seltensten geistigen Begabung leidenschaftlich versichern, hier in einigen ganz klaren, ganz einfachen Schlüssen sei eine augenfällige Absurdität verborgen. Er sucht und sucht, und da er beim besten Willen keine solche finden kann ...wird ihm endlich zu Muthe, als wären seine eigenen Gedanken wie festgenagelt .''

Besonderen Kummer muss Goethe die neunte Proposition Newtons zum 4. Problem 10bereitet haben: ,,Durch die entdeckten Eigenschaften des Lichts die Farben des Regenbogens zu erklären.
Dieses Problem konnte Newton mühelos erklären, und hier galt nun sicher nicht der Vorwurf, das Licht durch enge Spalte in finstern Kammern gequält zu haben und der Regenbogen ist ein Naturphänomen, das nur wenige Menschen unberührt lässt.

Goethe bemerkt dazu  11:

,,Wenn also Newton seine Lehre, die er auf Prismen und Linsen angewandt, nunmehr auch auf Kugeln und Tropfen anwendet, so ist dies seinem theoretischen und hypothetischen Gange ganz gemäss'' (also hier keine Verbalinjurien). Aber ,,...Wir halten uns jedoch bei diesem in die angewandte Physik gehörigen Falle nicht auf, sondern werden was wir desshalb zu sagen nöthig finden, in einer der supplementaren Abhandlungen nachbringen.''

1832 schreibt er dazu an den insistierenden Sulpiz Boisserée fast etwas ärgerlich 12: ,,Es ist ein grosser Fehler, dessen man sich in der Naturforschung schuldig macht, wenn wir hoffen, ein complicirtes Phänomen als solches erklären zu können, da schon viel dazu gehört, dasselbe auf seine ersten Elemente zurückzubringen.''

Ein sehr schöner und wahrer Satz, der sich vielfältig anwenden lässt, aber auch hier steckt wieder der Teufel im Detail und es gilt die Frage: Wo ist die Grenze der unüberwindlichen Komplikation? - besonders wenn die etablierte Theorie eine sehr einfache Erklärung bietet.

Auf den am leichtesten lesbaren, den historischen Teil der Farbenlehre möchte ich hier nicht eingehen, aber bevor ich zu den Reaktionen der zeitgenössischen und späteren Physiker eingehe, will ich kurz die grossartigste Reaktion auf die Goethe'sche Farbentheorie zeigen: Turners ,,Licht und Farbe(Goethe's Theorie)- Der Morgen nach der Sintflut - Moses schreibt das Buch Genesis'' von 1843 13.

Turner hat sich intensiv mit der Farbenlehre auseinandergestzt, wie seine Randbemerkungen zum didaktischen Teil zeigen. Beide stimmen darin überein, dass der Polarität eine bedeutende Rolle zukomme. Ob Turner eher der Newton'schen oder der Goethe'schen Theorie der Farben anhing, ist in der Forschung umstritten, jedenfalls fällt mir auf, dass am Morgen nach der Sintflut in starker Verkürzung der Zeiten Moses mit dem Zeichen der eherenen Schlange erscheint und nicht das nach Gen. 9 zu erwartende Zeichen des Bundes zwischen Gott und den Menschen, der in die Wolken gestzten Bogen - der Regenbogen mit dem verhassten Spektrum .

Dass die Auseinandersetzung Turners mit Goethes Farbenlehre intensiv und kritisch war zeigen seine Randbemerkungen zum didaktischen Teil 14. Ein besonderer Punkt der Kritik war, dass die Dunkelheit nur als nicht-Licht gesehen bei Goethe zu wenig Gewicht habe.

Bei der neo-platonischen Stelle in der Einleitung:

Wär' nicht das Auge sonnenhaft
Wie könnten wir das Licht erblicken?
merkt Turner an: ,,If the eye be sunny it could not know Darkness'', an anderer Stelle, wo Goethe zur Konstruktion einer Vorrichtung die fünf Farben, ,, in der bekannten Ordnung, Orange, Gelb,Grün, Blau, Violett'' aufzählt schreibt Turner an den Rand: ,,poor red stands for darkness''.

In diesem Sinne sehe ich auch das Gegenstück zum Morgen nach der Sintflut ,,Schatten und Dunkelheit- Der Abend der Sintflut 15'' (diesmal ohne bezug auf Goethe) als einen direkten bildlichen Ausdruck dieser Kritik. Unmittelbarer und unheimlicher liesse sich die Realität des Dunklen kaum zeigen.

Der sicherlich am wenigsten umstrittene Teil der Farbenlehre ist der Abschnitt über physiologische Farben. Hier hat Goethe einige wichtige Beobachtungen gemacht, die zwar nicht unbedingt neu waren, doch vor ihm eher als pathologisch und nicht als für die Sinnesphysiologie entscheidend angesehen wurden. Purkinje und der eigentliche Begründer der Sinnesphysiologie, Johannes Müller wurden von Goethe beeinflusst, letzterer allerdings nur in seiner Frühzeit. Dementsprechend nahm auch Goethe nur an den Arbeiten Purkinjes Anteil und förderte ihn. Johann Müller war aber sicher der bedeutendere Physiologe und als Lehrer von Helmholtz, Virchow und Du-Bois Reymond war er einer der Väter der modernen Physiologie, nicht nur in Deutschland. Alle diese Schüler äusserten sich auch über Goethe's Naturforschung. Ausführungen Helmholtzens haben wir schon mehrfach zitiert, und er wird uns auch noch öfters begegnen; der Meinung dieses Olympiers unter den Wissenschaften kommt auch ein besonderes Gewicht zu. Du Bois Reymond ist der Verfassers einer der - bei aller Hochachtung und Respekt vor dem Genie Goethe's - kritischsten Reden über Goethe, der Berliner Rektoratsrede von 1882 mit dem beziehungsreichen Titel ,,Goethe und kein Ende 16''. Er erkannte die Bedeutung der Goetheschen Beiträge zur Biologie durchaus an, wagte es aber festzustellen, dass Voltaire, der selbst keine vergleichbaren Originalbeiträge aufzuweisen habe, den Geist der modernen Naturwissenschaft besser verstanden habe als Goethe. Über Du Bois Reymond brach ein Sturm der Entrüstung. Er, der noch als Knabe den alten Eckermann durch seine Kenntnis Goethe'scher Texte beeindruckt hatte, konnte diese Kenntnis allerdings mit Genugtuung auch gegenüber seinen Kritikern anwenden, aber gegen die Anwürfe eines Gottfried Benn - in seinem Aufsatz von 1932 17 - musste er naturgemäss stumm bleiben. Auch Karl Jaspers 18musste ähnliches erleben wie Du Bois-Reymond.

Von den Reaktionen der zur Zeit Goethes lebenden Physiker ist die von Lichtenberg besonders interessant, da man ihm wirklich niemand, auch nicht Goethe, bornierte Fachblindheit nachsagen kann. Goethe schickte ihm 1792 - franco wie er betonte - ein Kästchen mit auf Gestellen beweglichen Schirmen, woran sämtliche subjektiven Erscheinungen auf eine bequeme Weise dargestellt werden konnten zu und später einige - nach Goethe's eigenen Aussagen 19 - noch rohe und ungeschlachte Aufsätze.

Lichtenberg reagiert langsam aber höflich und interessiert und geht insbesondere auf die farbigen Schatten ausführlich ein. Goethe schickt am 29. Dezember 1793 ein neues Manuskript 20; Lichtenberg's Neugier hält sich in Grenzen: er antwortet 21Goethe am 18. April 1794 und verspricht eine Antwort in den Semesterferien. Er empfiehlt im gleichen Brief Herrn Olufsen, Professor für Agrikultur, der bei Goethe eingefürt werden möchte. An diesen Olufsen schreibt er am gleichen Tag:
,,Herrn Göthen sagen Sie ja nicht, dass ich sein letztes Manuskript nicht gesehen hätte, denn ich habe es diesen Morgen würklich gelesen und werde ihm, wills Gott, noch in den Ferien einige Bemerkungen mitteilen. Er leitet alle Farben auf eine etwas gewagte, aber immer sinnreiche Weise aus blau und gelb her, selbst das Rote. Der gute Kopf leuchtet überall hervor.''

Also eine durchaus freundliche Reaktion, auch gegenüber dritten. Doch die Korrespondenz bricht bald ab, Lichtenberg zieht es vor, über den Benvenuto Cellini und die Hogarth'schen Kupfer zu sprechen  22, Goethe schreibt resignierend verärgert in den Confessionen 23 :

,,Eine Zeit lang antwortete er mir; als ich aber zuletzt dringender ward und das ekelhafte Newtonische Weiss mit Gewalt verfolgte, brach er ab über diese Dinge zu schreiben und zu antworten; ja er hatte nicht einmal die Freundlichkeit, ungeachtet eines so guten Verhältnisses, meiner Beiträge in der letzten Ausgabe seines Erxlebens zu erwähnen.''

Wie Lichtenberg mag es vielen durchaus aufgeschlossenen Physikern gegangen sein. Selbst der Naturforscher, der Goethe am weitesten folgte, nämlich Thomas Seebeck, wird von ihm noch zu guter letzt als Abweichler bezeichnet 24.

Goethe sagt im Motto für seinen ,,Entwurf einer Farbenlehre'' dass die Kinder, die jetzt spielen, darüber Richter sein weden, ob seine Sachen wahr oder falsch seien 25 . Die Kinder und deren Kinder haben entschieden, nicht wie er hoffte: ,,Wir heutigen Physiker sind in unsrem Fach Schüler Newtons und nicht Goethes'' sagt Carl Friedrich von Weizsaäcker 26 , und man kann hinzufügen, nicht nur die heutigen.

Doch auch wo Könige scheitern, haben die Kärrner zu tun, und wir fragen uns : Warum scheiterte Goethe an der physikalischen Farbenlehre?

Da es viel leichter ist, andere zu kritiesieren, als selbst eine wohlfundierte Meinung vorzulegen, möchte ich zunächst diesen einfacheren Weg einschlagen.

Einen Grund, wo nicht für ein Scheitern, so doch für einen sehr stockenden Fortgang hätte wohl auch Goethe selbst anerkannt: Das Projekt sei zu umfangreich für eine einzelne Person. Bei seinem Besuch in Heidelberg nach der Belagerung von Mainz erwähnte 27 Goethe,

wie an seinem Projekte Philosophen, Physiker, Mathematiker, Mahler, Mechaniker, Färber und Gott weiss wer alles teilnehmen müssten. Sein Schwager Schlosser verlachte ihn ob seiner Naivität glauben zu können, dass irgend jemand an dem Theil nähme, wofür er sich interessiere. Das führte zu einer Verstimmung, die die treue Freundin Delf nur mühsam glättete; Schlosser sollte recht behalten, kompetente Mitarbeiter fand Goethe tatsächlich nicht.

Und doch, selbst dies wäre nicht norwendigerweise ein Grund fürs Scheitern gewesen. Zumindest auf dem doch nicht so fernen Gebiet der Tonlehre wurde als Ein-Mann Unternehmen in acht Jahren ein Werk geschaffen das Philosophen, Physiker, Mathematiker, Physiologen, Anatomen, ausübende Künstler und Kompomisten, Instrumentenbauer und Gott weiss noch wen begeisterte und inspirierte und das beinahe anderthalb Jahrhunderte nach seiner Entstehung noch zur wissenschaftlichen Standardliteratur gehört: Die Lehre von den Tonempfindungen von Hermann Helmholtz.

Helmholtz selbst machte in seiner 2. Rede über Goethe's Naturforschung, Goethe's Vorahnung kommender naturwissenschaftlicher Ideen, gehalten in Weimar 1892 folgenden vermittelnden Vorschlag 28:

,,Es ist sehr zu bedauern, dass er zu jener Zeit die von Huygens schon aufgestellte Undulationstheorie des Lichtes nicht gekannt hat; diese würde ihm ein viel richtigeres und anschaulicheres ,,Urphänomen'' an die Hand gegben haben, als der dazu kaum geeignete und sehr verwickelte Vorgang, den er sich in den Farben trüber Medien zu diesem Ende wählte''

Nun, 1793 fragte ihn sein Schwager Schlosser bei dem bereits erwähnten Besuch in Heidelberg inwiefern sich seine Bearbeitungen mit der Eulerischen Theorie, also genau der Wellentheorie, vereinigen lasse. Goethe musste dagegen leider bekennen, dass auf seinem Wege hiernach garnicht gefragt werde.

Das Dilemma Ernst Cassirers habe ich bereits angesprochen. Sein Angebot war 29:

,,Goethe würde sich ...vermutlich gegen eine andere, ihm selbst freilich fremde, mathematisch-physikalische Betrachtungsweise der Farbenphänomene nicht gesträubt haben,wenn man ihm gestattet hätte, auch diese Betrachtung noch - ,,symbolisch zu nehmen''.

Die Farbenlehre Newton's symbolisch zu nehmen war Goethe keineswegs gehindert: Newton schreibt in der Definition zum 6. Versuch des 2. Teils von Buch 1 (in Goethe's Übersetzung): ,,Denn, wenn ich manchmal von Licht und Strahlen rede, als wenn sie gefärbt oder von Farben durchdrungen wären, so will ich dies nicht philosophisch und eigentlich gesagt haben. ...Denn , eigentlich zu reden, sind diese Strahlen nicht farbig, es ist nichts darin als eine gewisse Kraft und Disposition das Gefühl dieser oder jener Farbe zu erregen.''

Ganz ähnlich wie Newton schreibt Helmholtz in seiner physiologischen Optik, eben der Helmholtz, den Cassirer als einen der Hauptvertreter einer symbolischen Auffassung der Naturforschung bezeichnet.

Aber Goethe geht keineswegs auf dieses Angebot ein. Er sieht 30 in dieser ,,wunderlichen theoretischen Stelle'' nur einen gewissen Opportunismus gegnüber der Wellentheorie und rügt das Zusammenkneten dynamischer und atomistischer Ausdrücke

Man findet auch die Auffassung, Goethe habe nicht so sehr Newton, als die damalige mechanistische Naturauffassung bekämpft mit dem Unterton, die moderne Naturforschung habe ihm da in manchem Recht gegeben. So lese ich zum Beispiel Gundolf zumindest zwischen den Zeilen, der diesem Thema in seiner fast 800 seitigen Monographie 5 Seiten widmet.

Einige missverständliche Äusserungen Heisenbergs 31und auch der Titel der zweiten Rede Helmholtzens Goethe's Vorahnungen kommender naturwissenschaftlichter Ideen können tatsächlich den Eindruck erwecken, die moderne Naturwissenschaft habe Goethe zumindest teilweise Recht gegeben. Hiergegen lässt sich aber schon einwenden, dass die Foltermethoden, die Goethe Newton ankreidet, nämlich das Licht durch einen engen Strahl in eine dunklen Kammer zu quälen und in einem Prisma zu brechen, geradezu schonend sind gegen die moderne Experimentalphysik und gegen die mathematischen Abstraktionen der neuen Physik sind die des 18. und frühen 19. Jahrhunderts geradezu leicht fassliche Erzählungen für Kinder. Auch hat Born 32 richtig darauf hingewiesen dass es sich bei den Kontroversen mit Newton um grobe, alltägliche Erfahrungen handle, die mit den logischen und philosophischen Subtilitäten der Quantentheorie nichts zu tuen haben.

Auch Cassirer stellt fest 33: ,,Hätte Goethe diese Entwicklung der Physik erlebt, so hätte er gegenüber vermutlich noch schärfer empfunden und betont, dass sie den reinen Menschensinn zu verwirren drohe''.

Konsequenter war Heisenberg in seinem Vortrag Zur Geschichte der physikalischen Naturerklärung von 1932. Hier schreibt er 34:

,,Dieser Verzicht auf Lebendigkeit und Unmittelbarkeit, der die Voraussetzung war für die Fortschritte der Naturwissenschaft seit Newton, bildete auch den eigentlichen Grund für den erbitterten Kampf, den Goethe gegen die physikalische Optik Newtons in seiner Farbenlehre geführt hat. Es wäre oberflächlich, diesen Kampf als unwichtig zu vergessen; ... Wenn man hier Goethe etwas vorwerfen kann, dann nur den Mangel an letzter Konsequenz. '' Diese Konsequenz zog der Verteidiger Goethe'scher Naturforschung, Gottfried Benn, rr schreibt 35:

,,Ptolemäus war der Begründer des vorgalileischen Weltbildes ... Alles ruhte . war dem menschlichen Blick und Gedanken räumlich zugängig. Dann begann das Kataklysma: mit der Erde um die Sonne und der ganze physikalische Humbug mit der Milchstrasse und der Unendlichkeit. Daher meine Aggressive gegen Kepler und Galilei usw, ich glaube ja an die moderne Physik nicht ...Übrigen glaubte auch Goethe nicht an die Physik.''

Es folgt ein Hinweis auf seinen Aufsatz, der aus dem gleichen Jahr stammt wie die oben angeführte Rede Heisenbers.

Am konsequentesten ist diese Haltung ausgedruckt in einem der schönsten frühen Gedichte Benns (1913):

Oh dass wir unsre Ur-ur-ahnen wären,
Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor
Leben und Tod, Befruchten und Gebären
Glitte aus unsren stummen Säften vor.

Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel:
Vom Wind geformtes und nach unten schwer.
Schon ein Libellenkopf, ein Mövenflügel
Wäre zu weit und litte schon zusehr.

Diese atavistische Sehnsucht ruht wohl in jedem Menschen, warum auch nicht in Goethe, aber ich glaube nicht, dass sie entscheidend war. Goethe fühlte sich nicht als Warner vor einer unheilvollen Entwicklung, sondern durchaus auf der Höhe der Wissenschaft seiner Zeit und er warnte nicht vor der Abstraktion, weil er darin eine Gefahr für das Seelenheil der Menschheit sah, sondern für den Fortgang der Wissenschaft. In dem Abschnitt der Farbenlehre, der das ,,Verhältnis zur Mathematik'' behandelt, schreibt er z. B.36:

,,In den mittleren Zeiten war die Mathematik das vorzüglichste unter den Organen durch welche man sich der Geheimnisse der Natur zu bemächtigen hoffte; und noch ist in gewissen Theilen der Naturlehre die Messkunst, wie billig herrschend''.

Nein, der Grund für Goethes Kampf gegen Newton und die mathematische Naturforschung lag tiefer und sein Scheitern beim Versuch eine Alternative zu bieten hatte andere Gründe. Als Kronzeugen möchte ich dazu eines des ,,Physikalismus'' wahrlich unverdächtigen Zeugen aufrufen: Gian Battista Vico, der 5 Jahre vor Goethe's Geburt in Neapel starb. Doch da ich des trocknen Tones satt bin, folgt nun ein kurzes Zwischenspiel:

Zwei Italiener im Himmel 37.
Die Personen: ein agiler Neapolitaner, Gian Battista Vico und ein würdiger Pisaner mit weissem Bart, Galileo Galilei.

Vico: Ich habe mich, wie übrigens jeder der darüber nachdenkt, oft gewundert wie Du, lieber Galileo und die anderen Philosophen so ernsthaft der Erforschung der Natur folgen, von der doch nur GOTT Wissenschaft haben kann, da ER sie geschaffen hat.

Gal: Manchmal denke ich ja auch dass Du recht hast, lieber Gianbattista, und das die Physik wirklich zu schwer ist für die Physiker, ma seriosamente, man sieht, dass Du dein Studium der Mathematik schon nach dem 5. Lehrsatz des ersten Buches von Euklid abgebrochen hast. Hättest Du alle 13 Bücher studiert, dann verstündest Du, dass es eine Wissenschaft gibt, in der wir Gott gleich sind, nämlich die Mathematik.

Vico: Psssst...! Ich glaube Du wirst auch noch hier oben vom sacro officio beobachtet e questo mi pare un parlar molto resoluto ed ardito !

Gal: Schon gut, Bagigin, ich habe keine Lust aufs Feuer. Aber erstens habe ich auch hier oben beste Protektion, der Kardinal aus Cusa hat sich erst gestern mit mir sehr angeregt unterhalten und zweitens bin ich nicht übermütig: Natürlich sehe ich den Unterschied zwischen dem unendlichen göttlichen Verstand und unserem sehr beschränkten: Gott kennt alle mathematischen Wahrheiten, wir Menschen müssen uns aber mühsam durchquälen, da wir nur wenige wissen.

Vico: Du stimmst mir also zu, bester Galileo, dass wir tatsächlich intuitiv keine Kenntnis von der Natur haben können, behauptest aber dass wir diskursiv mit Hilfe der Mathematik durchaus gewisse Wahrheiten über sie erfahren können.

Gal: So ist es

Vico: Jetzt wird mir auch einiges über dieses Buch klar, das mir dieser würdige Deutsche Dichter gegeben hat. Eigenlich hat es mich nicht interessiert, da es von den Farben handelt, und als ich dann noch sah, wie sehr er gegen Sir Isaac, neben Leibniz das grösste Genie meines Zeitalters,

polemisierte war es mir vollends verleidet. Übrigens hat mir Sir Isaak gerade kürzlich wieder versichert, wie sehr er bedauert, dass ihn die erste Auflage der Scienza Nova, die ich ihm gleich nach Erscheinen zuschickte

nicht mehr erreicht hat und er hat....

Gal: Ja ich weiss, den Herrn Kollegen in seine Loge eingeladen, doch Du wolltest über diesen deutschen Dichter sprechen.

Vico: Ach ja, ich wollte diese Farbenlehre eigentlich nicht lesen, aber da der Geheimrat immer so warm von meinem geliebten Napoli spricht konnte ich ihm die Bitte dann doch nicht abschlagen. Und dann war ich doch sehr angenehm überrascht: Der Teil über Newton ist zwar etwas stark, doch rhetorisch eine Meisterleistung. Wenn ich es ins Lateinische übersetzte und den furor Teutonicus etwas temperierte, es könnte einen römischen Senator überzeugen.

Gal: Ja, einen Senator schon ...

Vico: Die anderen Teile enthalten wundervolle Stellen, tiefe Einsichten in die menschliche Seele, treffende Analogien und fleissige Arbeit an den Quellen. Aber immer da wo er von der Wirkung der Natur auf uns Menschen, die wir wohl vertehen können, gleich auf DIE Natur selbst schliesst kann ich ihm nicht folgen. Er tut so, als sei die Natur eine freundliche Dame, die man nur höflich zu fragen brauche, und gleich enthülle sie einem ihre Geheimnisse. Beim Urphänomen bin ich dann vollends verständnislos geblieben. Hier versucht er wahrlich etwas, was selbst Du als unmöglich zugestehst, nämlich eine intuitive Naturerkenntnis ...

Gal: Ja-ja die Dichter, lieber Gianbattista, ich habe da auch so meine Erfahrungen mit ihnen, besonders mit den Deutschen. Ich habe übrigens auch in der Farbenlehre gelesen, allerdings muss ich gestehen, nur das was er über mich schreibt, übrigens sehr schmeichelhaft. Aber trotzdem: Diese Dichter holen sich immer das heraus, was sie mögen. An meinem Beispiel sucht er zu beweisen, dass es in der Wissenschaft immer auf ein Aperçu ankomme. Natürlich hat er teilweise recht, oft leiten die ausgefallensten Gedanken eine wichtige Entwicklung ein, aber wenn der Geheimrat wüsste, wieviele Aperçus im Papierkorb landen, weil schon eine einfache Rechnung zeigt, dass sie nichts taugen, so geistreich sie auch waren.... Selbst bei dem, wofür ich allgemein bekannt bin, Du weisst schon mit der Lampe im Dom zu Pisa, und das er natürlich anführt, bin ich ja ganz schön übers Ziel hinausgeschossen. Glücklicherweise hat der vornehme Christian Huygens das ganz ohne Polemik richtiggestellt, auch Sir Isaac war in dieser Richtung sehr taktvoll, waren ja auch beide weit bessere Mathematiker als ich.

Ende des Zwischenspiels

Und damit sind wir beim Stichwort für ein wichtiges Kapitel: Goethe und die Mathematik.

,,Das Recht, die Natur in ihren einfachsten geheimsten Ursprüngen, so wie in ihren offenbarsten, am höchsten auffallenden Schöpfungen, auch ohne Mitwirkung der Mathematik, zu betrachten, zu erforschen, zu erfassen, musste ich mir, meine Anlagen und Verhältnisse zu Rathe ziehend, gar früh schon anmassen. ...

Ich hörte mich anklagen, als sei ich ein Widersacher, ein Feind der Mathematik überhaupt, die doch niemand höher schätzen kann als ich, da sie gerade das leistet, was mir zu bewirken völlig versagt worden''.

so schreibt Goethe 38 in der Sammlung: Die Mathematik und deren Missbrauch. Danach excerpiert er aus Texten von Autoren sehr unterschiedlichen Gewichts: Je le Rond d'Alembert, sowie einen Monsieur Despretz und Cavaliere Ciccolini. Mit der Auswahl ist auch schon ein Programm verbunden: d'Alembert wird zwar mit allem Recht von Diderot als der erste Geometer - sprich mathematische Physiker- seiner Zeit bezeichnet, aber bei diesem rationalistischem Sensualisten kommt eine Seite der Mathematik zu kurz, die auch gerade in der Anwendung auf die Physik eine grosse Rolle spielt, nämlich die einer symbolischen Sprache. Dabei besteht ihre Rolle nicht nur darin, Symbole präzise zu verknüpfen sondern auch neue symbolische Strukturen zu schaffen. Es ist daher kein Zufall, dass gerade an der Naturforschung interesierte Mathematiker wie Leibniz, Euler, Riemann vielleicht nicht unbedingt zu den strengsten, aber zu den schöpferischsten zählten. Pythagoras war kein Rechenkünstler und wenn Platon im Timaios spekulativ den 4 Elementen und dem All die 5 ,,Platonischen Körper'' zuordnet, so hat dies nichts mit Messkunst zu tuen, sondern mit mathematischen Strukturen. Der Beweis dass nur diese 5 Körper aus einander gleichen, gleichseitigen und gleichwinkligen Flächen gebildet werden können bildet den krönenden Abschluss des letzen Buches der Euklidischen Geometrie.

Aber grade diese Seite ist Goethe fremd. Aus allen Äusserungen über die Rolle der Mathematik in der Physik wird klar, dass sie für ihn im wesentlichen doch nur Messkunst -und vielleicht noch Deduktionskunst ist. Er steht allerdings mit dieser Meinung , vor allem in Deutschland, nicht allein . Auch was Lichtenberg über Mathematik schreibt geht deutlich in die Richtung einer einseitige Betonung des Quantitätsbezogenen und Vernachlässigung des Strukturellen 39; Über die Rolle der Mathematik hätten sich Goethe und Lichtenberg wohl leicht verständigt. So steht Goethe im Lande Leibnizens in einer Tradition , und er hat sie wohl auch noch gefördert, die Verstösse gegen den Geist der Mathematik unter den Verbrechen gegen den Geist gern zu den ehrenvollen politischen zählt, wie Musil 40 richtig erkannt hat.

Seine Ansichten über das Experiment hat Goethe in einem kurzen aber sehr inhaltsreichen Aufsatz: Der Versuch als Vermittler von Object und Subject 41niedergeschrieben. Vielleicht liegt es daran, dass ich Theoretiker und kein Experimentalphysiker bin, dass mir diese Abhandlung sehr viel weitsichtiger erscheint als der Aufsatz über Mathematik, doch hat dies auch seine innere Logik, denn niemand bezweifelt, dass Goethe ein ausgezeichneter Beobachter war. Lassen Sie mich neben den vielen Strängen dieses Werkes, die die uneingeschränkte Zustimmung eines jeden beobachtenden Naturforschers finden könnten nur einen einzigen herausarbeiten, der dann letzlich doch wieder zum Urphänomen führt:

,,Da alles in der Natur, besonders aber die allgemeineren Kräfte und Elemente in einer ewigen Wirkung und Gegenwirkung sind, so kann man von jedem einzelnen Phänomene sagen, dass es mit unzähligen andern in Verbindung stehe. ...Die Vermanichfaltung eines jeden einzelnen Versuches ist also die eigentliche Pflicht eines Naturforschers.'' schreibt Goethe.

Während aber die moderne Naturforschung ihre Erfolge dadurch erzielt, dass sie versucht möglichst viele Wirkungen und Gegenwirkungen auszuschliessen um zu einem überschaubaren Phänomen zu kommen, sieht Goethe die Aufgabe darin viele angrenzende Versuche zu einer Erfahrung höherer Art zusammenzufassen. Eine solche Erfahrung höherer Art kann dann zu dem führen, was er in der Farbenlehre Urphänomen genannt hat, mit all den Gefahren, die dieser Begriff mit sich bringt und die ich versucht habe aufzuzeigen.

Dass das isolierende Vorgehen nur zu einer bruchstückhaften Erkenntnis führen kann war einem Newton sicher bewusst, wenn vieleicht auch nicht jedem, der sich Newtonianer nannte. Aber die Erfahrung hat gelehrt, dass dies der einzige Weg zu einer objektiven Wissenschaft von der Natur ist.

Goethe hat die Achromasie, also die Möglichkeit Linsen ohne Farbfehler zu konstruieren, als einen endgültigen Beweis gegen die Newtonsche Optik gesehen. Aber sie traf eben nur einen isolierten Punkt des Newtonschen Gebäudes der leicht zu ersetzen war und die Konstruktion achromatischer Linsen erfogt genau nach der vereinzelnden Newton'schen Methode. Wenn Sie einwenden, diese Methode möge ja sehr erfolgreich bei den exakten Naturwissenschaften sein, aber ihre Übertragung auf andere Bereiche, wie etwa Soziologie, Psychologie oder vielleicht sogar gewisse Teile der Medizin sei zumindest gefährlich, so rennen Sie damit bei exakten Naturwissnschaftlern offene Türen ein.

Zum Schluss kommen wir wieder zu der Frage, woher diese obstinate Ablehnung der exakten Wissenschaft, diese wütende Polemik gegen Newton? Oder, um es mit v.Weizsäcker 42 dramatischer auszudrücken: ,,Wie konnte ein so grosser, so umfassender Geist so irren ?''

Darauf sind viele Antworten gegeben worden, manche wie die psychoanalytische Eisslers 43 erscheinen mir absurd, andere wie die Farbentheologie 44 Schönes sind äuserst intelligent und kenntnisreich. Aber dennoch erklären sie meiner Meinung nach nicht das zentrale Dilemma:

Goethe war sich der symbolischen Deutung der Wirklichkeit wie kaum ein zweiter bewusst, sein ganzes Werk gibt davon beredtes Zeugnis. Helmholtz wollte seine Rede: Über die Thatsachen in der Wahrnehmung'' wo er am deutlichsten seine Zeichentheorie darlegt, ursprünglich in Anlehnung an das Ende von Faust ,,Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis'' oder gar ,,Zu den Müttern '' nennen. Und dennoch wandte sich Goethe geradezu wütend dagegen, ein hochentwickeltes und differenziertes Symbolsystem nämlich das der mathematisierbaren Wissenschaft, das Cassirer sogar zu den privilegierten rechnet auf die Natur anzuwenden.

Ich glaube nicht, dass es hierfür eine einfache Antwort geben wird, und wenn ich nun ein paar Fragen aufwerfe, die meiner Meinung nach in die Richtung einer Erklärung weisen könnten , so ist mir klar dass ich mich damit aufs Glatteis begebe.

Ist es nicht möglich, so frage ich, dass Goethe, der bei allem Streben nach Harmonie und Ordnung wie kaum ein zweiter um die Abgründe der menschlichen Seele wusste, in der einheitlichen Natur ein Gegenstück sah und diesen archimedischen Punkte zum poetischen Überleben brauchte.

Er hat oft die reine Natur gegen den Menschen gesetzt:

Als Eduard in den Wahlverwandschaften von der Scheidung der Elemente erzählt ruft seine Frau Charlotte entsetzt  45:

,,Kommt das traurige Wort, das man leider in der Welt jetzt so oft hört auch in der Naturlehre vor ?''

In den venezianischen Epigrammen entgegnet Goethe denen, die ihn tadeln, dass er sich mit der Optik und Botanik beschäftigt anstatt die Herzen zu rühren:

,,Ach die zärtlichen Herzen! Ein Pfuscher mag sie zu rühren,
Sei es mein einziges Glück, dich zu berühren, Natur!''

Bei der Auseinandersetzung mit dem entscheidenden Versuche Newton's sieht er nicht nur das Licht, sondern die ganze Natur von einem grausamen Inquisitor auf die Folter gespannt  46:

,,Allein die Natur gleicht einer standhaften und edelmüthigen Person, welche selbst unter allen Qualen bei der Wahrheit verharrt. Steht es anders im Protocoll, so hat der Inquisitor falsch gehört, der Schreiber falsch niedergeschrieben. Sollte darauf eine solche unterschobene Aussage für eine kleine Zeit gelten, so findet sich doch wohl in der Folge noch jemand, welcher sich der gekränkten Unschuld annehmen mag; wie wir uns denn gegenwärtig gerüstet haben, für unsre Freundin diesen Ritterdienst zu wagen.''

Sah Goethe in der analysierenden Methode der exakten Naturwissenschaft die Gefahr, dass die Natur unter den Händen der Naturforscher genauso zerfiele wie die menschliche Seele unter den Händen der Dichter. Sieht er in der exakten Naturforschung die Gefahr, dass im Grossen das geschehe, was der junge Dichter mit der erhaschten Libelle erlebte 47?

Da hab' ich sie! Da hab' ich sie!
Und nun betracht' ich sie genau
Und seh' ein traurig dunkles Blau -


So geht es dir, Zergliedrer deiner Freuden!


Herrn Privatdozent Dr. P. Pfaff danke ich herzlich für seine wertvolle Hilfe bei der Quellenbeschaffung.



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Hans-Guenter Dosch
2002-07-14