8 Komplexe Zahlen

8.3 Funktionen einer komplexen Variablen

8.3.4 Potenzen

Zunächst betrachten wir wie früher die Potenzen math formula mit natürlichen Exponenten math formula:

math formula


wobei wir zum Schluß die Euler-Formel verwendet und so deren Erweiterung erhalten haben: die

Moivre-Formel: math formula



Das bedeutet für den

Betrag der n-ten Potenz:       math formula.


und für das

Argument der n-ten Potenz:       math formula.


Wir wollen zwei Beispiele genauer diskutieren:

1) Als erstes Beispiel wählen wir die Quadrat-Funktion, d.h. math formula:

Quadrat-Funktion:       math formula.


d.h. für den Realteil: math formula und den Imaginärteil: math formula

bzw. für den Betrag: math formula und für das Argument: math formula.

Zunächst berechnen wir einige Bildpunkte:

math formula,
math formula und
math formula.


Dann betrachten wir die senkrechte Gerade math formula und math formula. Daraus folgt math formula, also math formula, d.h. die Gleichung einer nach links offenen Parabel.
Analog zeigt man, dass die waagrechte Gerade math formula in die nach rechts offene Parabel math formula übergeht.
Der Einheitskreis math formula geht offenbar bei der Quadrat-Abbildung in sich über: math formula.
Aus math formula sieht man, dass die Hyperbeln mit den Winkelhalbierenden als Asymptoten in senkrechte Geraden und aus math formula, dass die Hyperbeln mit den Achsen als Asymptoten in waagrechte Geraden übergehen.

Das folgende Bild vermittelt einen Überblick über die gesamte Abbildung. Dabei ist bei der Urbild-Ebene die linke Hälfte weggelassen, da das Bild der rechten Hälfte allein schon die ganze w-Ebene überdeckt.

math formula
Bild 8.9: Rechte Hälfte der z- und gesamte obere w-Ebene der Quadrat-Funktion

Man kann sich die Abbildung etwa folgendermaßen zustandegekommen vorstellen: man denke sich die z-Ebene aus Gummifolie bestehend und klappe die positive und die negative imaginäre Halbachse um den Ursprung um math formula nach links in die negative reelle Achse, bis sie sich treffen.

Die Bilder der linken Hälfte der Gaußschen z-Ebene ergeben eine zweite Überdeckung der ganzen w-Ebene, ähnlich wie auch schon bei der reellen Quadrat-Funktion das Bild der negativen Urbild-Halbgeraden die positive Bild-Halbgerade ein zweites Mal überdeckte, weshalb die Wurzel-Funktion nur über der positiven Halbgerade definiert werden konnte. Um hier bei der komplexen Quadrat-Funktion eine Umkehrfunktion über der ganzen Ebene zu ermöglichen, schneiden die Mathematiker die beiden übereinander liegend gedachten Bild-Ebenen (z.B. entlang der negativen reellen Achse) auf und verbinden das obere Ufer des Schnittes im oberen Blatt mit dem unteren Ufer im unteren Blatt und denken sich auch das untere Ufer des oberen Blattes "durch die andere Verbindung hindurch" mit dem oberen Ufer des unteren Blattes verklebt. Das ganze Gebilde aus den zwei kreuzweise entlang der negativen reellen Achse verbundenen Ebenen nennt man eine Riemannsche Fläche mit zwei Blättern, so dass man sagen kann: die komplexe Quadrat-Funktion bildet die z-Ebene umkehrbar eindeutig auf eine zweiblättrige Riemannsche Fläche ab, wobei die spezielle Lage des Schnittes willkürlich ist; entscheidend ist nur, dass er zwischen den beiden Verzweigungspunkten math formula und math formula verläuft. Die nächste Abbildung versucht diesen Sachverhalt anschaulich darzustellen.

math formula
Bild 8.10: Riemannfläche der Quadrat-Funktion

Bei der Bewegung eines Massenpunkts z.B. auf dem Einheitskreis in der z-Ebene beginnend im Punkt math formula läuft auch der Bildpunkt math formula auf dem Einheitskreis in der oberen w-Ebene, jedoch doppelt so schnell, bis er bei math formula, d.h. math formula in das untere Blatt der Riemannschen w-Fläche abtaucht. Er läuft dann auf dem Einheitskreis im unteren Blatt weiter, befindet sich für math formula bei math formula im unteren Blatt und taucht erst für math formula wieder an der Abtauchstelle math formula auf dem oberen Blatt auf, um schließlich auf dem oberen Einheitskreis für math formula den Ausgangspunkt math formula wieder zu erreichen.

2) Ein ähnliches Bild erhält man für die kubische Funktion mit math formula:

Kubische Funktion:       math formula,


d.h. für den Betrag: math formula,
und für das Argument: math formula.

Wir berechnen nur einige Bildpunkte:

math formula, math formulaund math formula.


Man erkennt, dass ein Drittel der z-Ebene bereits auf die ganze w-Ebene, die ganze Urbild-Ebene also auf eine Riemann-Fläche bestehend aus drei zwischen math formula und math formula aufgeschnitten und miteinander verbundenen Blättern abgebildet wird. Die folgende Abbildung skizziert die Situation:

math formula
Bild 8.11: Ein Drittel der z-Ebene und oberes Blatt der w-Ebene für math formula

In dieser Art fortfahrend erhält man einen Überblick über alle Potenz-Funktionen math formula. Jeweils wird ein n-tel der z-Ebene auf die ganze w-Ebene bzw. die ganze z-Ebene umkehrbar eindeutig auf eine n-blättrige Riemann-Fläche abgebildet. Wenigstens im Prinzip ergibt das ein Bild von der Wirkungsweise der komplexen Polynome: math formula.

Für jedes derartiges Polynom m-ten Grades garantiert der Fundamentalsatz der Algebra im Komplexen die Existenz von math formula komplexen Zahlen math formula, so dass die Summe als Produkt mit math formula Faktoren: math formula dargestellt werden kann:

Fundamentalsatz der Algebra: math formula math formula



Aufgabe 8.8: Zum Fundamentalsatz der Algebra

Zeigen Sie mit Hilfe des Fundamentalsatzes der Algebra, dass für die Summe bzw. das Produkt der math formula Nullstellen math formula eines Polynomes math formula gilt:
math formula bzw. math formula. Lösung



Von den komplexen unendlichen Potenzreihen math formula, die die Mathematiker auch "ganze Funktionen" nennen, berichten wir ohne Beweis, dass diese Entwicklungen alle im Inneren eines Kreisgebiets math formula mit dem Radius math formula um das Entwicklungszentrum math formula absolut konvergieren und außerhalb divergieren, wobei der jetzt erst richtig verständliche "Konvergenzradius" math formula nach den Konvergenzkriterien berechnet werden kann, von denen wir früher einige erläutert haben. Zum Beispiel begrenzt bei der komplexen geometrischen Reihe math formula die Singularität bei math formula den Konvergenzradius auf math formula, wie wir in Abschnitt 6.5 mit Hilfe des Quotienten-Kriteriums gesehen haben.

Wir wollen hier nur drei besonders wichtige Potenzreihen exemplarisch genauer untersuchen: die natürliche Exponentialfunktion, der wir schon begegnet sind, und Sinus und Cosinus.