Testing Relativity

Zeitdehnung im Test

Wissenschaftler am Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik konnten eine der prägnantesten Aussagen der Speziellen Relativitätstheorie experimentell mit bisher unerreichter Präzision bestätigen: dass Uhren bei Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit immer langsamer ticken.

Von Georg Wolschin

Kleine, aber hartnäckige Diskrepanzen zwischen Messergebnissen und den Vorhersagen existierender Theorien sind oft Ausgangspunkt neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. So ermöglichte die Messung des kontinuierlichen Elektronen-Energiespektrums beim Beta-Zerfall im Unterschied zur theoretischen Erwartung eines diskreten Spektrums einst die Entdeckung des Neutrinos. Deshalb muss sich jede noch so etablierte Lehrmeinung immer wieder die Prüfung durch die Realität gefallen lassen. Das gilt auch für Albert Einsteins Spezielle Relativitätstheorie, die in ihrem kinematischen Teil auf bestechend elegante Weise die klassischen Bewegungsgesetze zu sehr hohen Geschwindigkeiten hin erweitert. Sie beruht ausschließlich auf zwei Postulaten: der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum und der Unabhängigkeit der physikalischen Gesetze vom Bezugssystem, sofern dieses keiner Beschleunigung unterliegt, also ein so genanntes Inertialsystem ist.

Einstein gelang es 1905, aus diesen Postulaten die Lorentz-Transformation theoretisch zu begründen, die zuvor schon mehrere Wissenschaftler ­ darunter Woldemar Voigt (1887), Sir Joseph Larmor (1898) und Hendrik A. Lorentz (1899) ­ formuliert hatten. Dabei geht es um den Zusammenhang zwischen den Raum-Zeit-Koordinaten zweier Bezugssysteme, die sich relativ zueinander mit konstanter Geschwindigkeit bewegen. Aus der Einsteinschen Deutung dieses Zusammenhangs, bei der die Zeit ihren Status als absolute, sich überall gleichartig ändernde Größe verliert, ergeben sich einige merkwürdige Folgerungen. So erscheinen einem Beobachter, an dem eine erdachte Rakete fast mit Lichtgeschwindigkeit vorbeirast, alle Objekte darin in Bewegungsrichtung verkürzt und alle Abläufe zeitlupenartig verlangsamt. Physiker sprechen von Längenkontraktion und Zeitdehnung.

Da die Effekte nur bei extrem hoher Geschwindigkeit auftreten, sind sie experimentell schwer exakt zu messen. Einstein selbst hat 1907 einen Vorschlag gemacht, wie sich die Zeitdehnung überprüfen ließe. Sie beeinflusst nämlich auch die recht genau bestimmbaren Frequenzen von Lichtquanten, die eine bewegte Quelle abstrahlt. Dadurch kommt es zum "relativistischen Doppler-Effekt". Sein klassisches Gegenstück wird gewöhnlich mit einem vorbeifahrenden Feuerwehrauto veranschaulicht, dessen Sirenenton zunächst hoch und dann tief klingt. Im relativistischen Fall ist außer der Relativbewegung, welche die Blau- beziehungsweise Rotverschiebung verursacht, auch die Zeitdehnung zu berücksichtigen. Erste einschlägige Experimente gab es bereits 1938. Als bewegte Quellen dienten dabei Wasserstoffatome, deren Emissionslinien bei Übergängen zwischen angeregten Zuständen mit einem empfindlichen Spektrographen gemessen wurden. Die Spezielle Relativitätstheorie ließ sich so auf vier Prozent genau bestätigen. Mit Lasertechniken an Stelle von konventionellen Spektrometern gelang es später, die Messungenauigkeit um das 10||000fache zu verringern.

Jetzt ermöglicht der Einsatz von Speicherringen für geladene Ionen den Vorstoß zu einer neuen Dimension experimenteller Exaktkeit. Eine Vorreiterrolle spielen dabei Wissenschaftler vom Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik in Zusammenarbeit mit Kollegen aus der Universitaet Mainz. Die Gruppe um Dirk Schwalm arbeitet mit einfach positiv geladenen Ionen von Lithium-7, die bei 6,4 Prozent der Lichtgeschwindigkeit (19000 Kilometer pro Sekunde) in einem Ring mit 55,4 Metern Umfang kreisen. Der Teilchenstrahl wird in einem Tandem-van-de-Graaff-Beschleuniger erzeugt, wo nach einer ersten Beschleunigungsstrecke ein Gas-Stripper von den zunächst negativ geladenen Lithium-Atomen im Mittel jeweils zwei Elektronen abstreift. Die so entstandenen 7Li+-Ionen werden auf einer zweiten Strecke umgekehrter Polarität nochmals beschleunigt und dann in den Speicherring eingespeist. Etwa zehn Prozent von ihnen sind beim Abstreifprozess in einem metastabilen Zustand gelandet, der im Ring eine durchschnittliche Lebensdauer von ungefähr 13 Sekunden hat.

Von diesem Zustand aus gibt es einen "optischen Übergang", bei dem die Elektronen durch Absorption von sichtbarem Licht auf ein höheres Energieniveau angehoben werden. Er findet in ruhenden Teilchen bei einer Wellenlänge von 548,5 Nanometern statt (Bild). Verschiedene Effekte bewirken allerdings eine Aufspaltung dieser Absorptionslinie in viele Äste und Zweige. Diese so genannte Fein- und Hyperfeinstruktur ist bei 7Li+-Ionen gut aufgelöst und präzise bekannt. Schwalm und seine Mitarbeiter maßen bei ihrem Experiment die Frequenz eines Uebergangs, deren Wert für ruhende Teilchen 1994 auf zehn Stellen genau bestimmt wurde.

Leider ist die Geschwindigkeit der Ionen im Speicherring längst nicht so einheitlich, wie die Experimentatoren sich das wünschen würden. Sonst ließe sich einfach mit einem durchstimmbaren Laser die Frequenz des optischen Übergangs ermitteln. Tatsächlich sind die Ionen aber nur annähernd gleich schnell, weshalb ihre Absorptionslinie durch den Doppler-Effekt so verbreitert wird, dass der Einfluss der Zeitdehnung nicht mehr erkennbar ist. Deshalb arbeiteten die Heidelberger Forscher mit zwei Lichtquellen: einem Argon-Laser mit einer festen Wellenlänge von 514 Nanometern, den sie von hinten auf die Teilchen richteten, und einem durchstimmbaren Farbstofflaser mit ungefähr 585 Nanometern, der von vorne auf die Ionen zielte. Die beiden Wellenlängen waren so gewählt, dass sie ungefähr der Relativistischen Doppler-Verschiebung des Übergangs entsprachen (im ersten Fall nach "Blau" und im zweiten nach "Rot").

Jeder der beiden Laser markierte im Pulk der unterschiedlich schnellen Ionen diejenige Teilpopulation, deren Geschwindigkeit genau passte, indem er sie mehr oder weniger vollständig in einen kurzlebigen angeregten Zustand hob. Dieser Zustand zerfiel jeweils unter Aussendung von Fluoreszenzlicht, welches die Forscher registrierten. Das Durchstimmen des zweiten Lasers brachte die beiden angeregten Populationen dann irgendwann zur Deckung. Da die Ionen in diesem Fall bereits durch den ersten Laser angeregt sind, macht sich das Erreichen dieser Situation durch einen Abfall in der Intensität des emittierten Fluoreszenzlichtes bemerkbar.

Nun folgt aus der Speziellen Relativitätstheorie, dass an dem Punkt, wo die beiden Resonanzen zusammenfallen, das Produkt der zwei unterschiedlichen Laserfrequenzen gleich dem Quadrat der Ruhefrequenz des optischen Übergangs sein muss. Diese einfache Beziehung hängt erstaunlicherweise nicht mehr von der Geschwindigkeit der Ionen ab: Der kombinierte Effekt der nichtrelativistischen Doppler-Verschiebungen wird vom Einfluss der Zeitdehnung gerade kompensiert.

Die geschilderten Messungen ergaben, dass diese Gleichung innerhalb der experimentellen Unsicherheiten in der Tat erfüllt ist. Mithin konnten die Heidelberger Forscher die aus der Theorie berechnete Zeitdehnung auf 0,22 Millionstel genau bestätigen: etwa zehnmal genauer als alle früheren Messungen (G. Saathoff et al., Physical Review Letters, Band 91, 190403 (7.11.2003)). Falls es gelingt, die Übergangsfrequenz des ruhenden Ions noch präziser zu bestimmen, sind Verbesserungen um eine weitere Größenordnung möglich. Auch wenn heute niemand mehr ernstlich an der Gültigkeit der Speziellen Relativitätstheorie zweifelt, ist es angesichts ihrer fundamentalen Bedeutung wichtig, sie anhand möglichst strenger Tests immer strikter zu verifizieren.

Bild: Lithium-7 Ionen haben ein metastabiles 3S- Niveau, aus dem heraus sie durch Einstrahlen von Laserlicht in einen angeregten 3P- Zustand gehoben werden können. Beide Niveaus haben eine sehr genau bekannte Hyperfeinstruktur. Im Heidelberger Speicherring-Experiment wird ein Übergang zwischen zwei Niveaus (roter Pfeil) untersucht. Aus dem Vergleich der gemessenen Übergangsfrequenzen bei ruhenden und im Ring umlaufenden Ionen lässt sich die aus der Speziellen Relativitätstheorie berechnete Zeitdehnung auf 2,2·10^-7 genau bestätigen (Physical Review Letters, Band 91, 190403 (2003)).

Bildquelle: MPI-HD

Siehe Spektrum der Wissenschaft XY(2004) für den bebilderten und redigierten Artikel.

return