Über alternative kosmologische Modelle

Das Standardmodell der Kosmologie kommt aufgrund einfacher Annahmen zu dem Schluss, dass ein Großteil der kosmischen Massendichte aus dunkler Materie bestehe und der größte Teil der Energiedichte des Universums durch die dunkle Energie beigetragen werde. Ich bekomme viele Briefe und Abhandlungen darüber, wie diese Schlussfolgerungen umgangen werden könnten, und werde darum gebeten, diese Vorschläge zu kommentieren.

Oft wird mir aus solchen Zuschriften nicht klar, worin die genannte Erklärung eigentlich besteht. Vielfach werden Lösungen in Gestalt einfacher Formeln angegeben, aus denen ich nicht erkennen kann, welche Grundgleichungen dadurch gelöst würden und auf welchen Annahmen sie beruhen. Deswegen fühle ich mich in solchen Fällen außerstande, die Erklärungen sinnvoll zu kommentieren, denn das müsste ich anhand ihrer physikalischen Grundlagen versuchen.

Wegen sehr vieler ähnlicher Zuschriften und wegen meiner eng begrenzten Zeit möchte ich zunächst von jedem ihrer Autoren erklärt bekommen, auf welchen physikalischen Grundlagen alternative Modellvorstellungen von unserem Universum beruhen und wie sie diejenigen Beobachtungen zu deuten vermögen, die dem kosmologischen Standardmodell problemlos einzugliedern sind.

Das wären insbesondere:

  • die Existenz, das Spektrum und die Temperatur des kosmischen Mikrowellenhintergrunds;
  • die Temperatur- und Polarisationsschwankungen, die in ihm beobachtet werden;
  • die frühe kosmische Nukleosynthese, insbesondere die durch sie vorhergesagten und durch unabhängige Messungen bestätigten Häufigkeiten leichter Elemente;
  • die anhand der Supernovae vom Typ Ia nachgemessene Expansionsgeschichte des Universums;
  • die beobachtete Lichtablenkung aufgrund des Gravitationslinseneffekts;
  • das beobachtete kosmische Strukturwachstum und seine detaillierte Übereinstimmung mit der Vorhersage aufgrund des kosmologischen Standardmodells; sowie
  • die anhand der Galaxienverteilung nachgemessenen Schallwellen aus dem frühen Universum.

In Zeiten einer Vielzahl hochpräziser Messungen reicht es nicht, mithilfe eines alternativen Erklärungsmodells eine einzelne kosmische Beobachtung zu beschreiben. Vielmehr muss ein Modell, das den Anspruch erhebt, eine Alternative zum Standardmodell der Kosmologie zu sein, mindestens zwei Kriterien erfüllen: Es muss auf mindestens ebenso einfachen Grundlagen beruhen wie die Standard-Kosmologie, und es muss insbesondere alle diejenigen Erklärungen mindestens ebensogut liefern, zu denen die Standard-Kosmologie in der Lage ist; mindestens, denn anderenfalls könnte die Alternative bestenfalls als gleich gut gelten. Erst dann könnte ein anderes Modell als mögliche Alternative angesehen werden.

Bevor alternative Erklärungsmodelle nicht mit ebensolcher Sorgfalt und Genauigkeit wie die Standard-Kosmologie auf ihre Übereinstimmung mit allen aufgezählten Arten kosmischer Beobachtungsdaten hin überprüft und darin bestätigt worden sind, können sie nicht als vergleichbar angesehen werden. Wie alle anderen Gebiete der modernen Physik erfordert die Kosmologie ein sorgfältiges Studium ihrer Grundlagen sowie eine detaillierte Auseinandersetzung mit ihren Vorhersagen und deren Übereinstimmung mit allen verfügbaren Beobachtungen.

Deshalb erwarte ich von jedem Autor einer alternativen Erklärung des Universums, dass er sich zunächst mit dem Übersichtsartikel The Dark Universe aus Reviews of Modern Physics 82 (2010) 331 oder mit vergleichbaren Veröffentlichungen auseinandersetzen und für jede der dort beschriebenen Beobachtungsgrößen quantitativ belegen möge, inwiefern sie durch das alternative Modell besser erklärt werde als durch das kosmologische Standardmodell.

In der Physik genügt es nicht, wenn ein alternatives Modell für sich beansprucht, anders oder einfacher zu sein. Vielmehr muss sich jedes Modell den Beobachtungen stellen, darf zu keiner davon im Widerspruch stehen und muss sie zu deuten und zu erklären erlauben. Diese Bringschuld liegt bei den Autoren alternativer und neuer Modelle, wenn sie diese etablieren wollen.

Verantwortlich: Matthias Bartelmann