Hoffentlich haben Sie gemerkt, wie willkürlich wir bei der Wahl des Koordinatensystems vorgegangen sind. Da ein geschickt gewähltes Koordinatensystem für die tägliche Arbeit der Physiker außerordentlich bequem sein kann, die Willkür bei der Wahl aber und die Unabhängigkeit der Resultate der physikalischen Messungen von dieser Wahl von überragender Bedeutung sind, wollen wir uns noch etwas damit beschäftigen, was passiert wäre, wenn wir eine andere Wahl getroffen hätten:
Besonders vier Arten von Transformationen des Koordinatensystems sind praktisch interessant. Wir wählen jeweils ein einfaches, aber typisches Beispiel aus:
1) TRANSLATIONEN (VERSCHIEBUNGEN), z.B. um die Strecke 1 cm in 3-Richtung:
Zunächst beschäftigt uns die Willkür bei der Wahl des Ursprungs: Wie sähen die Koordinaten des Punktes
aus, wenn wir statt des Punktes
einen anderen Punkt, z.B.
, als Nullpunkt gewählt hätten, der um die Strecke
in positiver 3-Richtung verschoben ist?
Bild 9.4: Translation um die Strecke 1 cm in positive 3-Richtung
Aus dem Bild lesen wir unmittelbar ab, dass für die Zahlen gilt:
, während
und
unverändert bleiben, also insgesamt:
Es ist leicht, dieses Ergebnis auf Translationen um andere Strecken und in andere Richtungen zu verallgemeinern, so dass wir hier darauf verzichten können.
Aufgabe 9.2: Punktkoordinaten: Wie lauten die Koordinaten des Punktes |
Statt dessen wenden wir uns jetzt anderen besonders wichtigen Koordinatentransformationen zu, bei denen der Ursprung unverändert bleibt: zuerst den
2) DREHUNGEN (ROTATIONEN), z.B. um den Winkel um die 3-Richtung:
Wir betrachten dazu außer unserem alten Koordinatensystem ein neues
, das bei gleichbleibendem Ursprung
z.B. um einen Winkel
in positiver 3-Richtung gesehen im Uhrzeigersinn um die 3-Achse gedreht wurde:
Bild 9.5: Drehung des Koordinatensystems um den Winkel um die 3-Richtung
Aus dem Bild entnehmen wir, dass und
, während
, also:
z.B. ergibt sich für :
,
Aufgabe 9.3: Gedrehte Koordinatensysteme Berechnen Sie die Koordinaten des Punktes |
Weitere sehr interessante Transformationen, die den Nullpunkt invariant lassen, sind die
3) SPIEGELUNGEN, z.B. am Ursprung (Paritätstransformation).
Es genügt, eine einzige Spiegelung zu betrachten, da man alle anderen aus dieser und geeigneten Drehungen zusammensetzen kann. Wir wählen dazu die Punktspiegelung am Ursprung, die im folgenden Bild veranschaulicht und bei den Physikern unter dem Namen Paritätstransformation bekannt ist:
Bild 9.6: Spiegelung des Koordinatensystems am Ursprung
Wir wissen und sehen sofort aus dem Bild, dass dabei alle Koordinaten in ihr Negatives übergehen:
Aufgabe 9.4: Spiegelungen aus Parität und Drehungen Zeigen Sie, wie man die Spiegelung an der 1-2-Ebene, bei der |
Alle Spiegelungen und speziell die Paritätstransformation haben eine bemerkenswerte Eigenschaft, die wir leicht aus dem obigen Bild erkennen: Wenn wir nämlich die positive Hälfte der -Achse um den Winkel
in die positive Hälfte der
-Achse drehen, dann ist das in Richtung der positiven
-Achse gesehen keine Rechtsschraube mehr, sondern eine Linksschraube (mit Antiuhrzeigersinn). D.h. nach einer Spiegelung ist aus unserem Rechtskoordinatensystem ein Linkskoordinatensystem geworden. Für Leute, die sich auf die Verwendung von Rechtskoordinatensystemen geeinigt haben, ist das keine erfreuliche Sache, aber wir müssen lernen, damit zu leben und Mittel und Wege zu finden, auch eine versteckte Spiegelung immer sofort zu entlarven, wenn wir bei Rechtskoordinatensystemen bleiben wollen.
Als letztes Beispiel für die Transformation des Koordinatensystems untersuchen wir
4) STRECKUNGEN (DILATATIONEN): speziell aller drei Achsen um einen gemeinsamen Faktor, z.B. 10:
Etwas Derartiges kommt in der Praxis etwa vor, wenn wir dazu übergehen wollen, Längen statt in Zentimetern cm in Dezimetern dm zu messen. Bei solch einer Maßstabsänderung bleibt selbstverständlich der Ursprung invariant und auch die Koordinatenachsen bleiben unverändert, nur die Maß-Punkte werden auf den Achsen so verschoben, dass
, also die Abstände vom Ursprung
vergrößert werden:
Bild 9.7: Maßstabsänderung des Koordinatensystems um einen Faktor 10
Wenn Sie die Tastatur Ihres PC statt in cm in größeren Einheiten, z.B. dm messen, erhalten Sie natürlich kleinere Maßzahlen, nämlich:
Zusammenfassend können wir feststellen, dass die Koordinaten ein und desselben Punktes in verschiedenen Koordinatensystemen beträchtlich verschieden sind, dass wir also im folgenden immer auf die Koordinatensysteme achten müssen, wenn wir physikalische Zustände und Vorgänge beschreiben wollen.
Bisher sind wir jedoch erst bei den Punkten des dreidimensionalen euklidischen Raumes, können also nur ein statisches "Stillleben" von Massen, Ladungen, usw. beschreiben. Die Physik wird jedoch erst richtig interessant, wenn Bewegung in die Sache kommt.